Montag, 09.12.2024 12:07 Uhr

Die geheime Freiheit erfolgreicher Geschichtenerzähler

Verantwortlicher Autor: Gerd Kaap Leipzig/Berlin, 09.11.2024, 17:48 Uhr
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Chaos im Kopf
Chaos im Kopf  Bild: KI Bild; Bearbeitung: John M.

Leipzig/Berlin [ENA] Julia starrt frustriert auf die Notizzettel vor ihr. Seit drei Stunden sitzt sie an ihrem Schreibtisch, umgeben von Büchern über das Geschichtenerzählen. Ihr Laptop zeigt eine detaillierte Infografik der Heldenreise nach Joseph Campbell. „Der Ruf des Abenteuers, die Weigerung, der Mentor ...“, ...

Wenn das Werkzeug zur Fessel wird Die Heldenreise nach Campbell ist zweifellos eines der einflussreichsten Konzepte des Geschichtenerzählens. Von „Star Wars“ bis „Der Herr der Ringe“ – unzählige erfolgreiche Werke folgen ihrer Struktur. Doch was als hilfreiches Analysewerkzeug begann, hat sich für viele angehende Autoren zu einem starren Korsett entwickelt, das ihre Kreativität eher einschränkt als fördert.

Die Realität ist keine Heldenreise Das Leben schreibt Geschichten, die sich oft nicht in vorgefertigte Schemata pressen lassen. Eine Krebsdiagnose kommt ohne vorherige „Ankündigung“, eine Liebesgeschichte kann ohne dramatischen „Abstieg in die Unterwelt“ auskommen und manchmal gibt es keinen weisen Mentor, sondern nur die eigene innere Stimme. Die Kunst der bewussten Abweichung Die wahre Meisterschaft liegt nicht darin, blind einem Schema zu folgen, sondern zu wissen, wann man davon abweichen sollte. Erfolgreiche Autoren wie Virginia Woolf, James Joyce oder Franz Kafka haben gezeigt, dass bahnbrechende Literatur oft gerade dann entsteht, wenn man gewohnte Pfade verlässt.

Die Revolutionäre der Literatur Virginia Woolf brach in „Mrs. Dalloway“ radikal mit der linearen Erzählstruktur. Statt ihre Protagonistin durch die klassischen Stationen der Heldenreise zu führen, konzentrierte sie sich auf einen einzigen Tag im Leben ihrer Hauptfigur. Die wahre Reise findet in den Gedanken und Erinnerungen der Charaktere statt. Der „Mentor“ ist hier nicht eine weise Figur, sondern die eigene Lebenserfahrung, die sich in Reflexionen und Rückblenden offenbart.

James Joyce ging in „Ulysses“ noch weiter. Er nahm zwar die Odyssee als Grundgerüst, verdrehte aber jeden klassischen Erzählaspekt ins Experimentelle. Seine Protagonisten durchleben keine heroischen Abenteuer, sondern den banalen Alltag eines Dubliner Tages. Die „Prüfungen“ bestehen aus alltäglichen Begegnungen, die durch Joyces innovative Erzähltechnik zu tiefgründigen Erkenntnissen über das menschliche Dasein werden.

Der Mut zur Unvollkommenheit Franz Kafka zeigt in „Die Verwandlung“, dass eine Geschichte nicht mit dem „Ruf des Abenteuers“ beginnen muss. Seine Erzählung startet direkt mit der Katastrophe: Gregor Samsa ist bereits ein Käfer. Die klassische Heldenreise würde hier eine Vorgeschichte erwarten, eine Erklärung, einen auslösenden Moment. Kafka verweigert sich dieser Erwartung bewusst und schafft dadurch eine verstörende Unmittelbarkeit.

Moderne Beispiele gelungener Abweichung Auch zeitgenössische Autoren brechen erfolgreich mit den Konventionen: Haruki Murakami verwebt in „Kafka am Strand“ mehrere Erzählstränge, die sich der klassischen Struktur entziehen und dennoch (oder gerade deshalb) fesselnd sind. Sally Rooney verzichtet in „Normal People“ auf große Wendepunkte und konzentriert sich stattdessen auf die subtilen Verschiebungen in einer Beziehung. David Mitchell schafft in „Der Wolkenatlas“ eine verschachtelte Struktur aus sechs Geschichten, die sich gegenseitig spiegeln und beeinflussen.

Wann man abweichen sollte Die Entscheidung, von der klassischen Struktur abzuweichen, sollte nie willkürlich erfolgen. Sinnvolle Abweichungen entstehen, wenn: Die Geschichte selbst eine andere Form verlangt Die Charakterentwicklung subtiler verlaufen soll Gesellschaftliche oder psychologische Themen im Vordergrund stehen Experimentelle Erzählweisen dem Inhalt mehr Tiefe verleihen Die klassische Struktur die Authentizität der Geschichte gefährden würde

Das Handwerkszeug beherrschen, um es brechen zu können Interessanterweise kannten alle genannten Autoren die klassischen Erzählstrukturen sehr gut. Erst dieses Wissen ermöglichte es ihnen, bewusst und effektiv damit zu brechen. Es ist wie in der Malerei: Erst wer die Regeln der Perspektive beherrscht, kann sie gekonnt ignorieren und trotzdem überzeugende Bilder schaffen.

Alternative Strukturen für moderne Geschichten Bewährte Alternativen zur klassischen Heldenreise * Der zirkuläre Aufbau: Die Geschichte endet, wo sie begann – hingegen mit veränderter Perspektive. Wie in Gabriel García Márquez‘ „Hundert Jahre Einsamkeit“, wo sich Familienmuster wiederholen, aber mit jedem Zyklus neue Bedeutungen offenbaren. * Die Episodenstruktur: Mehrere kleinere Geschichten verweben sich zu einem größeren Ganzen. Jennifer Egan nutzt diese Technik meisterhaft in „Der größere Teil der Welt“, wo jedes Kapitel als eigenständige Kurzgeschichte funktioniert.

* Der Bewusstseinsstrom: Die innere Realität der Figuren bestimmt den Verlauf. Virginia Woolfs „Die Wellen“ lässt sechs verschiedene Bewusstseinsströme ineinanderfließen und schafft so ein vielschichtiges Porträt menschlicher Erfahrung. * Die Mosaikstruktur: fragmentarische Erzählungen, die erst am Ende ein Gesamtbild ergeben. Michael Cunninghams „Die Stunden“ verwebt drei zeitlich getrennte Handlungsstränge zu einem komplexen Muster.

Neue und experimentelle Strukturen * Die Rückwärtserzählung: Die Geschichte beginnt am Ende und arbeitet sich zum Anfang vor. Martin Amis‘ „Pfeil der Zeit“ nutzt diese Technik, um eine völlig neue Perspektive auf Ursache und Wirkung zu eröffnen. * Die Parallelwelten-Struktur: Verschiedene Versionen derselben Geschichte laufen nebeneinander her. Kate Atkinson verwendet dies in „Die Unvollendete“, wo die Protagonistin verschiedene Lebenswege gleichzeitig durchlebt. * Die Verschachtelung: Geschichten in Geschichten, die sich gegenseitig kommentieren und erhellen. Wie in Italo Calvinos „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“, wo jeder neue Erzählstrang den vorherigen bricht und erweitert.

* Die Netzwerkstruktur: Mehrere Hauptfiguren, deren Geschichten sich wie in einem sozialen Netzwerk überschneiden und beeinflussen. David Mitchell verwendet diese Struktur in „Ghostwritten“, wo jedes Kapitel aus der Sicht eines anderen Charakters erzählt wird. * Die dokumentarische Struktur: Die Geschichte wird durch fiktive Dokumente, Interviews, Zeitungsartikel und andere Medien erzählt. Max Brooks‘ „World War Z“ nutzt diese Form, um eine globale Geschichte aus vielen individuellen Perspektiven zu erzählen. * Der Kaleidoskop-Aufbau: Ein zentrales Ereignis wird aus verschiedenen Perspektiven immer wieder neu beleuchtet. Wie in Rashomon, wo dasselbe Verbrechen von verschiedenen Beteiligten völlig unterschiedlich geschildert wird.

Hybride und innovative Formen * Die Multimedia-Erzählung: Integration verschiedener Medienformen wie Bilder, Grafiken oder digitale Elemente in die narrative Struktur. Mark Z. Danielewskis „House of Leaves“ ist ein Paradebeispiel für diese experimentelle Form. * Die Quantum-Narrative: Geschichten, die sich wie Schrödingers Katze in mehreren Zuständen gleichzeitig befinden und erst durch die Interpretation des Lesers eine definitive Form annehmen.

* Die Fraktal-Struktur: Kleine Geschichten spiegeln die Struktur der größeren Geschichte wider wie in David Mitchells „Cloud Atlas“, wo jede Erzählung die Themen und Motive der anderen aufgreift und variiert. * Die Rhizom-Struktur: Nach dem philosophischen Konzept von Deleuze und Guattari – eine nicht-hierarchische Erzählweise, bei der jeder Punkt mit jedem anderen verbunden sein kann. Milorad Pavićs „Das Chasarische Wörterbuch“ verwendet diese Form als Lexikon, das in verschiedene Richtungen gelesen werden kann.

Praktische Anwendung Diese alternativen Strukturen sind nicht nur experimentelle Spielereien, sondern können gezielt eingesetzt werden, um: - komplexe psychologische Zustände darzustellen, - gesellschaftliche Vernetzungen aufzuzeigen, - zeitliche und räumliche Grenzen zu überwinden, - mehrschichtige Bedeutungsebenen zu schaffen oder - die aktive Beteiligung der Leser zu fördern. Den eigenen Weg finden Die Heldenreise sollte als das verstanden werden, was sie ist: ein Werkzeug unter vielen, nicht die einzige Wahrheit des Geschichtenerzählens. Moderne Autoren tun gut daran, sie zu kennen, aber nicht als unumstößliches Gesetz zu behandeln.

Die Werkzeugkiste des modernen Autors Stellen Sie sich einen erfahrenen Handwerker vor. Er besitzt nicht nur einen Hammer, sondern eine vollständige Werkzeugkiste. Je nach Aufgabe wählt er das passende Instrument. Genauso sollten Autoren die Heldenreise als eines von vielen Werkzeugen betrachten. Manchmal ist ein feiner Pinsel nützlicher als ein breiter Pinsel – manchmal braucht eine Geschichte die subtile Charakterentwicklung statt des großen Abenteuers.

Von den Großen lernen Betrachten wir Ernest Hemingway, der mit „Der alte Mann und das Meer“ eine Geschichte schuf, die oberflächlich wie eine klassische Heldenreise erscheint, aber in Wahrheit von den kleinen, präzisen Beobachtungen lebt. Oder nehmen wir Toni Morrison, die in „Menschenkind“ die Zeit selbst zu einem erzählerischen Instrument macht und dabei jede konventionelle Struktur sprengt.

Fazit: Befreiung vom Schema-Denken Julia sitzt in ihrem Arbeitszimmer, umgeben von zerknüllten Zetteln voller durchgestrichener Plotpoints. Frustriert schiebt sie die „Roadmap zur perfekten Geschichte“ beiseite. Ihr Blick fällt auf das Foto ihrer Protagonistin – eine erschöpfte Krankenschwester, die nach einer Doppelschicht im Regen auf den Bus wartet. Kein Schwert, kein magischer Mentor, keine übermenschliche Prüfung. Und doch liegt in diesem Moment mehr erzählerische Kraft als in allen heroischen Questen, die sie sich mühsam ausgedacht hat.

Der Moment der Befreiung Mit zitternden Händen öffnet sie ein neues Dokument. Die Worte kommen jetzt von selbst: „Marie spürte den Regen auf ihrer Haut, während sie die Krankenhaustasche enger an sich drückte. Sechzehn Stunden Schicht lagen hinter ihr und das Leben ihrer Patienten war so wenig heroisch wie ihr eigenes. Aber in der Art, wie sie jeden Morgen aufstand, in der stillen Entschlossenheit, mit der sie weitermachte – darin lag eine andere Art von Heldentum.“

Die neue Geschichte Plötzlich sieht Julia klar: Ihre Geschichte benötigt keine dramatischen Wendepunkte nach Lehrbuch. Sie braucht die Wahrhaftigkeit des echten Lebens: Die ungeplanten Momente des Triumphs Die leisen Niederlagen, die niemand sieht Die kleinen Entscheidungen, die große Veränderungen bewirken Die unerwarteten Verbindungen zwischen Menschen und Die Kraft, die im Alltäglichen liegt

Der Weg zur authentischen Stimme Als Julia ihrer inneren Stimme zu folgen beginnt, entdeckt sie eine tiefere Wahrheit: Die besten Geschichten entstehen nicht durch das sklavische Befolgen von Regeln, sondern durch den Mut, die eigene Wahrheit zu erzählen. Die Heldenreise wird zu einem fernen Echo, einem leisen Wegweiser, aber nicht mehr zum zwanghaften Korsett. Ein neues Verständnis von Meisterschaft Die wahre Kunst des Geschichtenerzählens liegt nicht in der perfekten Anwendung einer Formel, sondern in der Fähigkeit, das Leben in seiner ganzen unvorhersehbaren Schönheit einzufangen.

Wie ein Jazz-Musiker muss ein Autor die Grundakkorde kennen –die Magie entsteht jedoch erst durch die Improvisation, durch das Spiel mit den Regeln, durch den Mut, neue Wege zu gehen. Die Heldenreise bleibt ein wertvolles Werkzeug in der Schreibwerkstatt – aber sie ist eben nur das: ein Werkzeug, kein Gesetz. Die größten Geschichten entstehen dort, wo Autoren den Mut haben, ihrer eigenen kreativen Intuition zu folgen und die Stimmen ihrer Charaktere über die Regeln der Handbücher zu stellen. Denn am Ende sind es nicht die perfekt konstruierten Plots, die uns berühren, sondern die Momente echter menschlicher Erfahrung, die in ihrer Unvollkommenheit vollkommen sind.

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